Rückkehr zum Vulkan

 

1973 landete Günter Haaf, damals Redakteur des Magazins Stern, am Tag des Eldfell-Ausbruchs auf der Insel Heimaey. Nach gut 47 Jahren kehrte er nun zurück an den Ort seiner abenteuerlichsten Reportage – zum Abschluss einer einwöchigen, von Katla-Travel organisierten Island-Reise.

Artikel aus dem Stern 1973 zum Ausbruch Westmänner Inseln

23. Januar 1973, gegen 19 Uhr.

Die zweimotorige Piper „Aztec“ kommt auf der unbefestigten Landepiste von Heimaey zum Stehen. Bei laufenden Motoren springen die beiden Passagiere auf die Aschenbahn. Der Pilot startet sofort zum Rückflug nach Reykjavik.

Stern-Fotograf Fred Ihrt und ich stehen vor einem Inferno. Es hatte keine 18 Stunden früher ohne Vorwarnung begonnen: Am östlichen Rand der 5300-Einwohner-Stadt Vestmannaeyjar brach ein Vulkan aus. Nun speit er aus einer inzwischen zwei Kilometer langen Feuerspalte. Glühende Lava-Fontänen steigen hundert Meter hoch, dumpfe Explosionen grollen, feuerige Gaswolken fauchen in den Nachthimmel.

Wir sind nach unserer eiligen Anreise aus Hamburg Augen- und Ohrenzeugen der Geburt des neuen Vulkans Eldfell („Feuerberg“). Und wir sind auf dieser nur elf Quadratkilometer kleinen Insel verdammt nah dran. 


19. Juli 2020, gegen 11 Uhr.

Fast lautlos läuft die neue Autofähre „Herjólfur“ mit ihrem Hybridantrieb in den spektakulären Hafen von Vestmannaeyjar ein.

Westmänner Inselns vor der Fähre sichtbar

Vulkan Eyjafjallajökull und Myrdalsjökull

Keine halbe Stunde hat die Fahrt über den ungewöhnlich ruhigen, tiefblauen Nordatlantik an diesem sonnigen Tag gedauert.

Hinter uns auf der Hauptinsel ruht der Vulkan Eyjafjallajökull unter seiner Gletscherhaube – so als wäre der Ausbruch vor zehn Jahren nie geschehen, als seine Aschewolken den Luftverkehr über Nord- und Mitteleuropa wochenlang zum Erliegen gebracht hatten.

Lavafeld des Vulkans Eldfell auf den Westmänner Inseln

Vor uns kommt das erstarrte Lavafeld des Eldfells der Fahrrinne bedrohlich nahe.

Hier, erzähle ich meinem Sohn, hatten die Bewohner Heimaeys monatelang um ihre wirtschaftlich überlebenswichtige Hafeneinfahrt gekämpft: Sie schütteten aus allen verfügbaren Rohren gut sieben Millionen Kubikmeter Meerwasser auf den glühenden Lavastrom, um ihn abzukühlen und schließlich zum Stehen zu bringen.

 

Herr werden über die Feuer und Lavamassen beim Vulkanausbruch auf den Westmänner Inseln


Als die Eruptionen Anfang Juli 1973 endeten, war die Einfahrt zum wichtigsten Fischereihafen Islands viel schmaler geworden, dank der erstarrten Lava als natürlichem Wellenbrecher aber auch deutlich besser geschützt.

Nach 47 Jahren und sechs Monaten bin ich zum ersten Mal zurück auf Heimaey. Der Kontrast zwischen damals und heute könnte kaum größer sein


23. Januar 1973, Abend.

Zum Glück treibt der kalte Südwestwind Gas und Asche von uns weg auf den Nordatlantik hinaus. Wir sehen Licht im Tower des Flugplatzes. Die Männer der Notbesatzung sind so nett, den unerwartet vom Himmel gefallenen Fremden eine Fahrt mit dem einzig verfügbaren Auto in die längst evakuierte Stadt zu organisieren – mit einem Krankenwagen.

Aschebedeckter Krankenwagen aus 1973 zur Zeit des Ausbruches

Nur noch etwa 130 Rettungskräfte befinden sich auf der Insel, verladen im Hafen in höchster Eile Autos, Hausrat, Fischprodukte, Maschinen. Und sie haben wichtigeres zu tun, als sich um deutsche Journalisten zu kümmern.

Wir gehen durch den östlichen Teil der Stadt, versuchen so nah wie möglich an die urgewaltig wummernden Lava-Fontänen heranzukommen. Die verlassenen Häuser bieten etwas Schutz vor dem schneidend kalten Wind. Mit dem Rücken zur Wand spüren wir die Hitze des Vulkans im Gesicht – ein spektakulärer, aber auch gefährlicher Logenplatz. Glühende Vulkanbomben schlagen in Häuser ein, erste Gebäude brennen bereits. Fred Ihrt schießt Foto um Foto.

Verheerende Lavaströme und Aschewolken ziehen über die Ortschaft auf den Westmänner Inseln

Vorsicht – und Kälte – siegen schließlich über unsere Faszination, der feurigen Geburt neuer Erdkruste und zugleich der Zerstörung einer Stadt zuzusehen. Wir ziehen uns zum Hafen zurück, sind dankbar für das Angebot einer kurzen Rast in der Messe eines Küstenwachschiffs.


19. Juli 2020, Mittag.

Was für eine einfache, ungefährliche Ankunft: Mit dem Mietwagen von der Fähre rollen, nach hundert Meter an der Ampel – eine Ampel! – links in den Strandvegur, dann gleich rechts in die Herjólfsgata, und keine zwei Minuten später stehen wir im Guesthouse Hamar. Gepäck abgeben, einchecken.

„Willkommen auf Heimaey! Sind Sie zum ersten Mal hier?“, fragt die junge Frau am Empfang. „Mein Sohn ja; ich war schon mal vor 47 Jahren hier.“ – „Wow, ich bin erst 1993 geboren! Haben Sie den Eldfell-Ausbruch miterlebt?“ – „Ja, ich war am ersten und zweiten Tag der Eruption hier.“

Deckenbild Lava

Auch das Haus der Eigentümer dieses Hotels wurde damals vom Vulkan zerstört. Das verrät ein Infoblatt im Frühstücksraum. Dessen Decke zeigt ein zimmergroßes Bild eines stilisierten, rot glühenden Lavaflusses – hier leben alle unter dem Vulkan.

Picknick im Grünen auf den Westmänner Inseln

Zu Fuß wollen wir uns erst mal einen Blick über die kleine, aber unglaublich vielfältige Insel verschaffen. Also hinauf zum Berg Háhá, der grün und steil direkt am westlichen Ende des Hafenbeckens 220 Meter hoch aufragt.

Männer üben Sprangan an den Felsen, Westmänner Inseln

Auf einer Wiese am Beginn des Wanderpfads sitzen an diesem sonnigen Sonntag Familien beim Picknick, schauen zu, wie sich in der gegenüberliegenden Felswand ein paar Männer im Inselsport Sprangan üben.

Der Aufstieg ist kurz, aber knackig.

Der Hafen von Heimaey, Westmänner Inseln, Panorama Bild

Jede Atempause wird mit fantastischen Blicken über die gesamte Insel belohnt ­– hinab auf Hafen und Stadt, hinüber zu den beiden etwa gleich hohen Vulkankegeln, dem jungen, roten Eldfell und dem schwarzen, 5000 Jahre alten Helgafell an der Ostküste der Insel.

Blick auf die Ortschaft Heimaey, Westmänner Inseln

Nach Süden kreuzen sich die beiden asphaltierten Landebahnen des neuen Flughafens: Ihr Bau war erst durch die Aschemassen des Eldfells möglich geworden, mit denen sich das hügelige Gelände einebnen ließ. Dahinter erstreckt sich grünes Weideland bis auf die Halbinsel Stórhöf∂i, der stürmischen Südspitze Heimaeys.

Rings um die Insel – seit dem Eldfell-Ausbruch um gut zwei Quadratkilometer gewachsen – ragen unbewohnten Eilande, Klippen und Riffe aus dem blauen Atlantik, so als hätte ein Gigant Riesenbauklötze im Ozean verstreut.

Den Abschluss des Archipels nach Süden bildet Surtsey, 1963 feurig aus dem Meer aufgetaucht. Seit 2008 ist die mit 1,4 Quadratkilometern zweitgrößte Westmännerinsel UNESCO-Welterbe, ein streng geschütztes natürliches Labor. In ihm können Biologen, Geologen und Vulkanologen studieren, wie Pflanzen und Tiere den neuen Lebensraum erobern und wie dieser in der rauen See und dem stürmischen Wetter erodiert.

Mitte Juli herrscht in diesen hohen Breiten kein Mangel an Tageslicht. Also nutzen wir nach dem Abstieg vom Háhá die Abendsonne für eine Inselrundfahrt. Zunächst geht es auf gewundenen Straßen und Pisten in das vulkanische Neuland, das die Lavaflüsse und Ascheablagerungen des Eldfell geschaffen haben.

Grüne Landschaften auf den Westmänner Inseln

Blumen in Island

Wir staunen, wie grün bewachsen weite Teile dieses aus der Glut geborenen Geländes bereits sind. Wir lassen uns vom Garten am „Drachenfelsen“ mit seinen inzwischen 700 verschiedenen Pflanzenarten bezaubern, den die Heimaeyer Bürger Gauja und Elli seit 1988 hegen.

Skulptur auf den Westmänner INseln

Leuchtturm Ur∂aviti aus dem Jahr 1986

Blick von den Lavaklippen hinüber zu den Nachbarinseln Bjarnaey und Elli∂aey mit ihren grünen Grashauben. Eine riesige Steinskulptur erinnert an die Felseninsel Ur∂ur, die damals samt ihrem Leuchtturm vom Lavastrom des Eldfell überrollt wurde.

Der neue, über eine breite Treppe zugängliche Leuchtturm Ur∂aviti aus dem Jahr 1986 lässt sich zurückversetzen, sobald das Meer wieder ein Stück der Steilküste abgenagt hat.

Papageitaucher auf den Westmänner Inseln

Wir wandern auf Schafspfaden über den Klippen von Stórhöf∂i auf der Suche nach Papageitaucher-Brutgebieten. Wir werden fündig und treffen auf eine kleine Gruppe Papageitaucher.

auf der Insel Westmänner gebrautes Bier

Und wir genießen schließlich den Abschluss dieses grandiosen Sonntags in der „Slippurin Eatery“. Das coole Restaurant in der umgebauten Maschinenhalle einer alten Werft folgt der Slow-Food-Bewegung. Es ist um 21:30 Uhr noch sehr gut besucht. Wir bestellen ein fabelhaftes Menü, dessen Zutaten hauptsächlich von der Insel oder aus dem Meer drumherum stammen: vorab Carpaccio vom marinierten Insellamm sowie vom gebeizten Heilbutt; als Hauptgericht Blauleng-Filet sowie Lammfilet in Kräuterkruste; als Nachtisch Skyr – ein fettarmer isländischer Frischkäse – mit Rhabarber. Dazu einen alkoholfreien Cocktail mit lokalen Engelwurz-Kräutern sowie ein feines, auf der Insel gebrautes Bier: Skál!


24. Januar 1973

Als der kurze Wintertag graut, steigen Fred Ihrt und ich die Flanke des alten Vulkans Helgafell hoch. Der Blick aus rund 200 Meter Höhe, weniger als einen Kilometer von der Lava speienden Vulkanspalte entfernt, zeigt das ganze Ausmaß des Desasters für Heimaey und seine Bewohner. Wie zur Beschwörung des altnordischen Feuergottes Surtur hebe ich vor dem Abstieg beide Arme.

Günter Haaf am feuerspuckenden Vulkan

Von den Rettungskräften im Hafen erfahren wir wenig später, dass am Nachmittag eine alte DC-3-Propellermaschine der US Navy nach Reykjavik fliegen soll. Die Piloten sind so nett, mich und meine kostbare Fracht – ein Beutel mit unentwickelten Filmen – als Anhalter kostenlos mitzunehmen. Die einzigen von einem Profi-Fotografen gemachten Bilder vom Tag des Eldfell-Ausbruchs müssen zum Redaktionsschluss am Donnerstag in Hamburg sein. Fred Ihrt will über die Nacht noch mehr Szenen der Zerstörung fotografieren.

25. Januar 1973

Auch Fred Ihrt schafft es rechtzeitig nach Reykjavik zurück. Wir fliegen via Kopenhagen nach Hamburg. Um Mitternacht, kurz vor Redaktionsschluss der Stern-Ausgabe vom 1. Februar 1973, sind Ihrts Fotos und mein Text druckreif. 


20. Juli 2020

Beim Frühstück unter dem Lavabild im Guesthouse Hamar schwärmen wir noch immer von unserem köstlichen Dinner im „Slippurinn“. Ich erzähle von der eher sehr bescheidenen Qualität des Essens in Reykjavik vor 47 Jahren. Wir sind uns einig, dass wir bei dieser einwöchigen Islandreise erstaunlich gut gegessen haben – eine der angenehmsten Überraschungen dieser insgesamt sehr schönen Tour durch den Südwesten Islands.

Selbst die hautnahe Begegnung mit der Mutter aller Islandtiefs am zweiten und dritten Tag der Reise mit Orkanböen, Starkregen und nur noch sechs Grad plus passte zu der wilden Fahrt um die Halbinsel Snaefellsnes, zum grandiosen Thingvellir, zu Geysir, Strokkur und Gullfoss. Wie sagen die Hamburger? „Es gibt kein schlechtes Wetter, nur unpassende Kleidung.“

Dafür verwöhnt uns seit drei Tagen ein Islandhoch mit Sonne. Sie lässt die Schnee- und Gletscherhauben von Hekla, Eyjafjalla- und Myrdalsjökull glänzen und taucht die alte Siedlung Keldur mit ihren Torfhäusern und sanften Wiesen in sattestes Grün.

Wir haben bei diesem Traumwetter noch gute sechs Stunden für den Eldfell und das in seine westliche Flanke gegrabene Museum.

Punkt zehn Uhr sind wir die ersten Besucher im Eldheimar-Museum.

Ich gebe mich als Augenzeuge des Eldfell-Ausbruchs zu erkennen und überreiche der überraschten Empfangsdame eine Kopie meines Stern-Berichts für’s Archiv. Sie öffnet extra für uns den Vorführsaal, damit wir vor dem Rundgang den halbstündige Film sehen können.

Die Dokumentation zeigt eindrucksvoll die Eruption und die Zerstörung im Jahr 1973, die Flucht und die Rückkehr der Inselbewohner sowie den Bau des 2014 errichteten Museums über einem wieder ausgegrabenen Wohnhaus.

Das geräumige Gebäude lag an der Straße Ger∂isbraut 10. Hier lebten zum Ausbruch des Eldfells Gerður Sigurðardóttir, ihr Mann Guðni Ólafsson und ihre drei kleinen Kinder. Sie mussten Hals über Kopf fliehen, ließen alles zurück. Wenige Tage später hatten Asche und Lavabrocken das Haus vollständig begraben. Erst vier Jahrzehnte später wurde es wieder ausgegraben, ein „Pompeji des Nordens“. Auf eigenen Wunsch und Risiko betrat Gerður Sigurðardóttir als erste ihr für immer verloren geglaubtes Haus – eine ans Herz gehende Szene in der filmischen Dokumentation des Eldheimar-Museums.

Wenig später stehen wir vor den nackten Betonmauern des Hauses, das den zentralen Platz in der riesigen Halle des Museums einnimmt. Wir sehen durch Fenster- und Türhöhlen in die noch immer mit Asche bedeckten Räume. Auf interaktiven Monitoren erfahren wir, wo Gerður Sigurðardóttir welche Gegenstände ihres Hausrats wieder gefunden hatte, hören, wie es ihr dabei erging.

Wer weiß, frage ich mich, ob ich damals nicht auch an der Ostwand dieses Hauses Schutz vor dem kalten Wind suchte?

In der Dokumentation im hinteren Teil des Eldheimar-Museums über das Leben vor, während und nach des Vulkanausbruchs bleibe ich immer wieder an Details hängen. Da ein Foto des Krankenwagens, der uns seinerzeit am Flugplatz abholte. Dort ein Bild der DC-3, mit der ich zurück flog. Wände voller Bilder der Lavaflüsse und Ascheberge, beschallt mit Aufnahmen des dumpfen Wummerns der Eruptionen. Was für Erinnerungen!

Draußen wartet der reale Vulkan des Jahres 2020. Wir steigen über Aschen und Schlacken den halbmondförmigen Kraterrand hoch. Nach Norden hin, wo die Lavaströme beinahe den Hafen verschüttet haben, ist der Krater offen.

 

Oben, am höchsten Punkt, rund 200 Meter über dem Meer, ragt eine bizarr verformte, natürliche Lavaskulptur aus der roten Schlacke.

Doch dann lässt der überwältigende Rundblick über Heimaey, über die Westmännerinseln und hinüber zu den Gletschern der Hauptinsel uns vergessen, worauf wir stehen: auf dem jüngsten Vulkan Islands – auf dem mittelatlantischen Rücken, dort wo Eurasien und Nordamerika Zentimeter um Zentimeter auseinander driften.

Farbige Vulkanlandschaft auf den Westmänner Inseln

Günter Haaf, Jahrgang 1946, war von 1971 bis 1975 Redakteur beim Stern, betreute später neun Jahre lang das Wissenschaftsressort der ZEIT, gründete die Reihe GEO-Wissen, war Chefredakteur des Magazins natur und arbeitete danach bis zur Rente erst als Chefredakteur, dann als Redaktionsdirektor beim Wort & Bild Verlag (u.a. Apotheken Umschau). Er lebt in einem Dorf am Starnberger See.

Danke an die Chefredaktion des Stern für die Erlaubnis, Fred Ihrts Schwarzweiß-Fotos vom 23. und 24. Januar 1973 hier verwenden zu dürfen.

Danksagung

Wir sind Herrn Haaf außerordentlich dankbar dafür, dass er seine wundervollen, unersetzlichen Erfahrungen mit uns getauscht hat! Wir freuen uns sehr, dass wir ihn und seinen Sohn bei der Reise zu den Westmänner Inseln unterstützen durften. Wir wünschen ihm und seiner Familie alles erdenklich Gute!